Es ist der 26.11.2011 und das Orgateam, das zum #PreBings geladen hatte, ist schwer in Aktion. Um Punkt 13:00 Uhr steht dann alles bereit: großer Raum mit Saalbestuhlung, Piratoramakamera mit Kameramann, Beamer, Leinwand, Mikro und alles weitere nötige Equipment, das man für eine Bundesparteitag-Trockenübung so braucht. An der Säule am Eingang hängt eine 2,5qm lange Liste mit den etwa 500 eingereichten Antragstiteln. Daneben liegen ausgedruckte Listen mit den kompletten Antragstexten; für diejenigen, die ohne Laptop anwesend sein würden.
Gegen 13:30 eröffnet Miriam, die die Versammlungsleitung macht, die Veranstaltung. Formell stellt sie die Wahlleitung und das Orgateam vor: Ingo.
In Vorfreude auf die nächsten Stunden wird fröhlich geklatscht. Die Stuhlreihen sind, wie im Flugzeug, durch die freundliche Unterstützung von Apple, Acer, Sony, Dell, Toshiba und Konsorten individuell beleuchtet. Noch werden Auslosungszettel und kleine Spickzettel der möglichen Geschäftsordnungsanträge, kurz GO-Anträge genannt, verteilt, und dann schon tauchen wir ein in die Untiefen der Antragsflut. Wer in den letzten Wochen fleißig war, hat bereits einen Überblick über interessante Anträge und deren Konkurrenz. Mit einem Mal bin ich sehr froh über die etwa 14 Stunden, die ich mich mit anderen Piraten beim #Anthraxpalaver durch die Anträge gewühlt habe.
Auf der Leinwand können wir Ingos Aktivitäten verfolgen. Er steigt ein mit einer Übersicht der Anträge. Nummer um Nummer aufsteigend, Titel um Titel, ein Durcheinander würde man meinen, wenn man sich noch nicht damit beschäftigt hätte.
„Wo finde ich denn die Liste, die Du da hast?“ fragt mein Nachbar und äugt auf meinen Monitor.
„Ah, das ist die Anthraxpalaver-Liste, super übersichtlich, was?“
Er nickt.
Ich lese ihm den Link vor, und dann studieren wir schnell nochmal die Lieblingsanträge, die wir dann auf unserem Verlosungszettel eintragen. An erste Stelle trage ich, aus Gründen, die Nummer des Antrags meiner Crew-Mitpiraten ein. An zweite Stelle setze ich meinen Antrag. Platz drei bis sieben fülle ich noch aus, und dann wird auch schon eingesammelt.
„Ihr müsst die Zettel zusammen falten“, protestiert die Losfee, als sie ziehen will. „Das geht so nicht! Ich könnte ja Nummern erkennen, und das könnte mich beeinflussen.“
Während sie vorne schnell nachfalten, kommt ein Vorschlag aus der Menge: „Mach doch die Augen zu.“
Sie schaut kurz auf, ihre Miene sieht nach ‚Auch eine Idee‘ aus, während sie weiterfaltet. Alles soll seine Ordnung haben.
„Losplatz 1: PA017“ verkündet die Stimme der Versammlungsleitung, und Saalfee @Schneiderlein42 schreibt die Nummer auf ein analoges Whiteboard. Gleichzeitig erscheint die Nummer des ersten ausgelosten Antrags im PreBings Protokoll-Pad auf der Leinwand.
„Auf Platz 2: Der Antrag 121.“
Ich lache laut. Das ist der Antrag meines Nachbarn. Während ich ihm auf die Schulter klopfe, lache ich immer noch. Fast ein bisschen zu laut, aber ich kann grad nicht anders. Irgendwie beneide ich ihn. Er darf nämlich gleich üben, seinen Antrag vorzustellen. Das würde ich auch so gern tun. Andererseits bin ich unglaublich froh, dass es ihn, und nicht mich getroffen hat. Reden vor großen fremden Gruppen ist nicht so meine Stärke. Gar nicht eher.
Als die letzte der fünf Antrags-Nummern der ersten Auslosung notiert sind, startet das Prozedere.
„Ist der Antragsteller da und möchte den Antrag vorstellen?“ fragt Miriam in die Runde.
„Nein? Ist jemand da, der den Antrag für ihn vorstellen möchte?“
Ein Pirat meldet sich.
„Dann komm bitte vor und stell diesen Antrag mit ein paar kurzen Sätzen vor.“ motiviert sie ihn nach vorne.
Nach der Vorstellung wird formal abgestimmt, ob der Antrag behandelt werden soll. Die Mehrheit stimmt dafür und so wird die Diskussionsrunde gestartet.
„Wer etwas zu dem Antrag äußern möchte, komme jetzt bitte nach vorn.“
Zwei Personen stellen sich an. Und dann wird argumentiert. „Weil… plädiere ich, diesen Antrag anzunehmen.“ oder „weil … bitte ich den Antrag abzulehnen.“
Es gesellen sich weitere Menschen in die Schlange. Manche argumentieren so, andere so, es entwickelt sich ein reger Austausch zu dem Antrag.
Plötzlich schaut die Verantsaltungsleitung Miriam in den Saal.
Da sitzt jemand, der beide Arme in die Höhe gereckt hat.
Was hat er nur, frage ich mich, als sich die Situation auch schon aufklärt.
„GO-Antrag!“ wird gerufen.
„Ja, bitte?“ unterbricht die Versammlungsleitung die Diskussion, „GO-Antrag wofür?“
„Ich stelle den GO-Antrag, die Rednerliste zu schließen.“
„Es ist der GO-Antrag gestellt worden, die Rednerliste zu schließen,“ wiederholt sie, „hat jemand Einwände?“
„Formal oder mit Begründung?“
„Formal“, ruft jemand aus dem Raum.
„Dann stimmen wir jetzt darüber ab: Wer ist dafür, die Rednerliste zu schließen?“
Die Mehrheit stimmt dafür.
„Die Rednerliste wird geschlossen, wer sich jetzt noch anstellen möchte, hat dafür noch einen Moment Zeit.“
Zwei Menschen strömen nach vorn.
„Der Moment ist gleich vorüber,“ kündigt sie an, um mit den Worten „Der Moment ist jetzt vorbei“ die Rednerliste endgültig zu schließen.
Nach der Diskussion schreiten wir zur Abstimmung des Antrags.
Wie die Abstimmung ausgegangen ist, weiß ich jetzt auch nicht mehr, nur noch, das Miriam sagte, „Wenn dies der Bundesparteitag 2011 in Offenbach wäre, dann wäre dieser Antrag abgelehnt/angenommen.“
Dann behandeln wir Platz 2 der Losliste. Mein Nachbar stellt seinen Antrag vor, es wird abgestimmt, ob er behandelt werden soll, daraufhin wird diskutiert bis jemand aus dem Publikum beide Arme in die Höhe reckt.
„GO-Antrag auf Begrenzung der Redezeit auf 2 Minuten.“
Abstimmung, angenommen, weiter gehts. Diskussion.
Zwei Arme.
„GO-Antrag auf Schließung der Rednerliste und Begrenzung der Redezeit auf 2 Sekunden.“
Ich staune. Was es alles so gibt in der Politik. Zwei Sekunden Redezeit? Das erinnert mich an einen Sketch, in dem Talkmaster und Kandidatin neben einer großen Uhr stehen, und der Talkmaster sagt: „Sie haben jetzt Ihre Wunschzeit, Sie dürfen sich alles wünschen, was Sie wollen. Wenn ich Start sage, beginnt die Wunschzeit, und wenn ich Stopp sage, endet sie.“
„Start!“, und der Zeiger der großen Uhr dreht sich.
Die Kandidatin öffnet den Mund, um den ersten Wunsch auszusprechen.
„Stopp. Schade!“ ergänzt der Talkmaster, während der Zeiger nach nichtmal einer Viertelsekunde die Uhr umrundet hatte.
„Das sind zwei GO-Anträge.“ korrigiert Miriam. „Einmal Schließung der Redezeit, und dann Begrenzung der Redezeit auf 2 Sekunden.“
Sie schaut in die Runde.
„Wirklich? Begrenzung der Redezeit auf 2 Sekunden?“
Das Publikum freut sich derweil.
Formgerecht werden beide Anträge gestellt und abgestimmt. Es bleibt bei der Redezeit von einer Minute.
Zwischendurch bin ich ein wenig abgelenkt. Ich schaue mal grad in twitter rein und berichte ein bisschen, damit andere eine Vorstellung bekommen können, was wir gerade tun. Als ich mal wieder auf die Tafel schaue, steht da meine Antragsnummer. Wie? Was? Mein Antrag? Mir wird klar, was das bedeutet, und ich rutsche spontan meinen Stuhl hinunter.
Ein gequältes „Oh, nein!“ entweicht mir, während ich mich hilfesuchend zu meinem Nachbarn wende.
„Du bist nicht konzentriert“, antwortet er, und grinst mich an, während er auf meine twitterwall zeigt.
„Ja. Nein. Egal“, sage ich, und fange an zu schwitzen. Und wenn ich mich auch sehr freue, dass ich ausgelost bin, so überwiegt doch zeitgleich dieses dumpfe Lampenfiebergefühl, das ich immer bekomme, obwohl ich doch schon reichlich Gelegenheit genutzt habe, es mir abzugewöhnen.
So machen wir weiter. Vorstellung, Abstimmung, Rednerliste, zwei vertikale Arme hier, Abstimmung, Rednerliste, zwei vertikale Arme dort, und zwischendurch der Hinweis auf Doppelnennungen von Argumenten zu verzichten. ‚Was Soundso sagt‘ reicht, um die Position zu unterstreichen. Und dann wieder zwei Arme.
„GO-Antrag auf Änderung der GO.“
„Die ist schriftlich einzureichen.“
Zurück kommt ein winzig kleiner Zettel, auf dem Wörter stehen.
„Also bitte!“ Die Versammlungsleitung schaut irritiert in die Runde. „Aber… es ist schriftlich, und ich kann nicht verhehlen, dass ich verstehe, was gemeint ist.“
Der Saal amusiert sich köstlich. Abstimmung. Abgelehnt. Mit 100% der Stimmen. Der Antragsteller hat wohl nur ein wenig trollen wollen. Gehört alles zur Übung.
„GO-Antrag auf 10 Minuten Pause!“ Angenommen.
In der Pause stehe ich mit meinem Nachbarn in der Lobby.
„Mir ist schlecht“, sage ich.
„Warum?“ fragt er überrascht.
„Ich bin dran, gleich.“
Anscheinend sehe ich auch jämmerlich aus, denn er bugsiert mich zu einem in der Nähe stehenden Stuhl.
„Setz Dich“
Ich setze mich.
„Schließ die Augen.“
Ich schließe die Augen. Und dann befolge ich seine Vorschläge und atme dreimal tief und ruhig ein und aus. Dann sage ich in einem Satz etwas über meinen Antrag. Wie ferngesteuert sage ich irgendetwas, und weiß gar nicht so richtig, wo es herkommt. Aber es klingt gut. Dann stelle ich mir das Gefühl vor, das ich habe, wenn ich diesen Satz auf der Bühne gesagt habe. Dann atme ich wieder dreimal. In einem zweiten Satz erkläre ich, warum ich diesen Antrag mag, und stelle mir dann das Gefühl vor, was ich habe, nachdem ich es gesagt habe. Es fühlt sich sehr gut an.
„So, fertig, kannst die Augen wieder öffnen.“
Super, denke ich, jetzt bin ich ja gut vorbereitet.
Ich bin gleich dran, noch 1 Antrag. Nur noch ein Antrag.
„Ist der Antragsteller da und möchte den Antrag vorstellen?“ fragt Miriam in die Runde.
„Nein? Ist jemand da, der den Antrag für ihn vorstellen möchte?“
Kein Pirat meldet sich.
„Damit wird der Antrag gestrichen. Antrag PA150 bitte. Ist der Antragsteller da und möchte den Antrag vorstellen?“ fragt Miriam in die Runde.
Ich bemerke, dass ich gemeint bin und nicke.
„Ja? E-laine? Bitte, dann komm nach vorn.“
Ich stehe auf, und gehe mutig nach vorn. Sie übergibt mir das Mikrofon und ich nehme es. Dann stehe ich da und schaue in den Saal. Alle schweigen und schauen mich an. Ich schaue zurück. Und schaue. Dann sehe ich mal zur Versammlungsleitung.
„Ja, bitte, du kannst den Antrag jetzt vorstellen.“
Ich nicke. Und schaue, und zucke mit den Schultern.
„Na los, erzähl irgendwas“, ermuntert sie mich.
Ich wende mich mutig dem Publikum zu. Und schweige.
Dann fällt mir etwas ein, was die Situation gut beschreibt.
„Ich habe Schwierigkeiten vor vielen Leuten zu sprechen.“ Mehr nicht.
Aus den Stuhlreihen kommen jetzt lautstarke Ermunterungen.
„Fang einfach an, ist gar nicht schlimm, erzähl irgendwas!“ „Das kenn ich, das legt sich.“ „Du schaffst das, sag irgendwas, fang einfach an.“
„Aber… ich kann grad nichts erzählen. Ich weiß gar nichts mehr“ sage ich, und ergänze hilflos, „Gar nichts.“
Währenddessen grübele ich wie wild darüber, wovon mein Antrag noch gleich handelt. Ich hab es vergessen. Alles weg.
„Setz dich erstmal hin“ beruhigt mich Miriam.
Ich setze mich auf die Kante der Bühne. Dann schließe ich einfach die Augen. Und atme tief und ruhig ein und aus. Und plötzlich kommt ein Satz. Ich stehe auf, und fange an zu reden.
Was genau ich gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Es hatte aber glücklicherweise etwas mit meinem Antrag zu tun.
„Wer ist dafür, diesen Antrag zu behandeln?“
Nach der Abstimmung wird die Rednerliste eröffnet. Ein Pirat stellt Fragen zum Antrag und äußert Bedenken. Mit einem Mal ist mein Geist vollständig zurück. Ich stehe auf, und stelle mich in die Rednerschlange. Es entfacht sich eine rege Diskussion, in der ich noch zweimal das Wort ergreife. Alle Blockaden sind weg und ich kann mich vor der Runde in gewohnter Weise ausdrücken.
„Ich habe modulare Abstimmung angegeben, deswegen plädiere ich dafür, nur Punkt 1 und 2 ins Programm aufzunehmen, und die anderen zu streichen.
„Das geht nicht!“
„Doch.“ sage ich, noch ziemlich sicher, dass es möglich ist.
„Nein, das erlaubt die GO nicht.“
„Nein?“
„Nein.“
„Ok, dann plädiere ich dafür, den Antrag abzulehnen. Das Positionspapier ist sowieso viel besser.“
Eins nach dem anderen, denke ich mir. Von einem der Gegenredner bekomme ich spontan das Angebot, dass er sich bei der Entwicklung des Positionspapiers einbringen will. Ich bin beeindruckt. Und freue mich, dass das Thema bei so vielen Personen guten Anklang findet.
Ermutigt und voller Freude hebe ich die Hand, als wir die Ablehnung des Antrags in der eingereichten Form abstimmen, der abgelehnt würde, wenn das jetzt der Bundesparteitag 2011 in Offenbach wäre. Es wird nicht mein letzter Antrag dazu gewesen sein.
Wir üben und üben, bis 20.00 Uhr. Ein Übungs-GO-Antrag jagt jetzt den nächsten und es wird zwischendurch viel gelacht.
Direkt vor der Abstimmung um Annahme oder Ablehnung des letzten Antrags heben sich erneut zwei Arme.
„GO-Antrag!“
„Was?“
„GO-Antrag auf Ponytime!“
Wir üben 3:17 min Ponytime, wenn auch ohne Ton, aber es ist ja auch nur eine Übung.
Dann nehmen wir den letzten Antrag an, der angenommen wäre, wenn das jetzt der Bundesparteitag 2011 in Offenbach wäre.
Und dann beschließen wir die Versammlung.
Es war ein voller Erfolg! Vielen Dank an Ingo und Miriam!
Fotos: Michael Jespersen
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