Das letzte Squad Meeting war gut. Informativ, konzentriert, produktiv und lustig. So, wie ein gelungenes Squad Meeting sein sollte. Auf dem Weg zur S-Bahn denke ich nochmal über die Gespräche nach. Wir hatten sehr unterschiedliche Themen. Zu meiner Freude war auch mein derzeitiges Lieblingsthema dabei: Genderdings.
Zugegebenerweise habe ich mich in den letzten Jahren wenig darüber unterhalten, es war kein großes Thema in meinem Leben. Seit ich bei den Piraten bin, ist das anders. Warum eigentlich? Ich empfinde eine ausgesprochen angenehme, geschlechtsneutrale Atmosphäre untereinander. Einzig, dass ich mich nicht Piratin nennen sollte, hatte mich aufmüpfig gemacht. Ich nenne mich immer noch so, wie ich will. Da wird mir wohl auch keine Satzung der wohl progressivsten Partei Deutschlands etwas Anderes diktieren. Naja, ich höre aber auch problemfrei auf Pirat. Da bin ich flexibel. Viele weibliche Piraten sind das. Manche nicht. Das habe ich schnell mitbekommen, denn ich benutze jetzt seit neustem wieder meinen bis dahin stiefmütterlich (oder -brüderlich, nee, wohl eher -väterlich, na, egal) geführten twitter account. Piraten machen das so. Man kann sich stundenlang damit beschäftigen.
Twitter ist wie eine Daily Soap. Um alles mitzubekommen, muss man regelmäßig schauen. Macht man mal ne Pause, hat man aber auch nix verpasst. (Das sind genau 140 Zeichen). Ich jedenfalls habe angefangen reinzuschauen, und damit fing mein ausführlichster Diskurs in die Genderdingsfrage an.
Aber, ich schweife ab. Ich sitze dann also endlich in der S-Bahn. Nach einer halben Station fällt mir siedenheiß auf, dass ich, obwohl genug Zeit da gewesen wäre, vergessen habe, ein Ticket zu ziehen. Ich mache ein Geräusch, das sich wie „Hhhhhhhhüüü“ anhört. Mein Sitznachbar dreht sich zu mir um und schaut mich fragend an.
„Ich habe vergessen, ein Ticket zu ziehen!“ sage ich erklärend. „Obwohl ich genug Zeit hatte, eins zu ziehen“, füge ich sicherheitshalber hinzu.
„Oh“ sagt er, und ergänzt ein „Das ist das Risiko.“
„Nein nein“ erwidere ich, puterrot im Gesicht, „Ich will doch nicht schwarzfahren!“
„Es ist leider noch vor 20.00 Uhr“, antwortet er. Ich bedanke mich, und ich freue mich sehr über sein Angebot.
„Ich steige gleich aus und zieh mir eins“, antworte ich, schließlich sind Kinder anwesend. „Schönen Abend“ wirft er mir noch freundlich hinterher, als ich die S-Bahn an der nächsten Haltestelle verlasse.
Als ich mir dann ein Ticket gelöst hab, fällt mir mal wieder auf, wie sinnvoll der fahrscheinlose öffentliche Personennahverkehr (Insider sagen dazu ÖPNV) wäre. Wirklich. Ich bin dafür. Sehr.
Mit meinem Ticket und einem höchst erleichterten Gefühl steige ich in die nächste Bahn ein. Nach einer Weile ergattere ich einen Platz. Als er frei wird, zögere ich, denn die Dame neben mir sieht ein bisschen älter aus als ich. Ich biete ihr den Platz an. Als sie etwas peinlich berührt mit den Worten „Ach, so weit habe ich es ja nicht, das lohnt sich nicht“ ablehnt, fällt mir auf, wie unsensibel mein Angebot war. So alt war sie nun auch wieder nicht. Manchmal muss man sogar mit Freundlichkeit vorsichtig sein.
Ich bedaure meine Tat, und setze mich. Um der Situation etwas die Hitze zu nehmen, schließe ich die Augen und tue so, als hätte sie eine gute Wahl getroffen, weil sie jetzt sehen kann, wie müde ich bin. Plötzlich werde ich müde. Ich dussel so vor mich hin, gähne ein ums andere Mal und entspanne mich. Es war ein schöner Tag. Ein schönes Squad Treffen. Vor allem die Einstimmigkeit, in der wir geredet haben, hat mir sehr gefallen. Die aufgeregteste Meinung war die eines weiblichen Piraten, die sich von der noch aufgeregteren öffentlichen Debatte distanzierte. „Ja, aber das ist doch auch wichtig“, beruhigte sie einer der Männer.
Als ich die Augen wieder öffne, steht sie immer noch da. Neben mir nehme ich jetzt einen Mann wahr, der ein Buch liest. Da ich es immer interessant finde, zu sehen, was die anderen lesen, schiele ich schräg links rüber und entdecke, dass er einen Ratgeber für Männer studiert. Ich lese heimlich mit, als er mich anschaut und fragt „Möchtest Du mitlesen?“
„Oh“, sage ich ertappt, „ja, sehr gerne!“
Er hält das Buch jetzt schräg rüber in meine Richtung und sagt entschuldigend „Es ist ein Ratgeber, für Männer“, dabei beobachtet er meine Reaktion.
„Das ist doch interessant!“ sage ich begeistert, und er ergänzt, „Ja, es ist auch was für Frauen drin.“
Wir lesen zusammen das Kapitel, was er kurz zuvor ausgesucht hat. Es geht um Männer und Frauen, und um ihre Unterschiedlichkeit. Ich lese, dass Männer immer die Freiheit wollen, egal bei was, und dass alles was sie dafür tun, ein Kampf um diese Freiheit ist, sei es bei der Arbeit, mit den Kumpels, beim Fußball oder, das darf in so einem Buch natürlich nicht ausgelassen werden, beim Sex. Der Orgasmus ist quasi der Durchbruch zur Befreiung, von Lust, und quasi wie der Tod anzusehen, dem sie gern ins Auge schauen. Der Tod der Unfreiheit (oder so ähnlich), den Rest habe ich mir jetzt nicht so merken können in der kurzen Zeit. Es stand natürlich auch etwas über Frauen drin, nämlich dass ihr Hauptanliegen, oder -drang oder so, die Liebe ist. Die Fülle. Dass sie deshalb ihre Regale voller Krams stellen, gern viel essen, es lieben, Fülle zu kreiieren.
„Naja“, sage ich zu ihm, „ich finde das jetzt etwas sehr polarisierend. Man kann doch nicht einfach sagen, Frauen sind so und Männer sind so.“
„Nein nein“, antwortet er, „der Autor hat extra vorher erklärt, dass es dabei um das Männliche und das Weibliche geht, und jeder hat doch alle möglichen Anteile von beidem, deshalb trifft auch vieles, was hier als weiblich beschrieben wird, auf mich zu.“
Ich nicke. „Das macht Sinn“, sage ich, „so gehts mir auch.“
Die S-Bahn steht bereits, als ich feststelle, dass ich schon an meinem Zielbahnhof angekommen bin. Die Dame war eine Station zuvor ausgestiegen.
„Oh, ich muss los! Das war ein interessantes gemeinsames Lesen!“ bedanke ich mich beim Aufstehen.
„Hier“, sagt er und dreht mir den Titel zu: „Der Weg des wahren Mannes, von David Deida“.
„Danke“, lächle ich, und steige winkend aus.
Das war ein wirklich guter Tag. Genderdings. Wie schön, wenn Männer und Frauen einfach gelassen damit umgehen. Das macht Spaß.
Ich finde es nach wie vor komisch – und dabei geht es jetzt um den „Ratgeber“ – dass an Kategorien wie dem „Männlichen“ und dem „Weiblichen“ festgehalten wird. Und das obwohl man im Vorfeld sagt, jeder Mensch hätte ja Männliches und Weibliches. WTF? Offenbar gibt es einfach Menschliches und jeder hat etwas von diesem und von jenem. Wenn sowohl Männer Weibliches als auch Frauen Männliches haben, woher weiß ich dann, bzw. warum lege ich fest, welche menschlichen Eigenschaften, Verhaltensweisen oder Sehnsüchte männlich und welche weiblich sind? Das ist genau so ein Blödsinn, wie wenn Deutschlehrer behaupten, es gäbe in der Poesie männliche und weibliche Kadenzen und die mit einer unbetonten Silbe am Ende sind die Weibchen. Da ist es wieder das Weltbild, dass Männer hart und abrupt sind und Frauen weichen und geschmeidig. Und wenn du als Mann weich und geschmeidig bist, dann bist du vielleicht immer noch biologisch ein Mann, aber einer mit weiblichen Eigenschaften. Also doch irgendwie gar kein richtiger Mann, sondern ein „verweiblichter“. Warum? Warum sind wir nicht einfach alle Menschen mit Muschi oder Pimmel oder was anderem? Warum brauche ich überhaupt jemanden, der mir erklärt, was an mir weiblich und was männlich ist?
Man mag entspannt mit Genderdingen umgehen können, aber die entspannte Bemerkung, dass ich mich ja nicht von jemanden beraten lassen würde, der erst erklärt, DAS Männliche und DAS Weibliche gäbe es nicht, nur um es sofort darauf als Differenzierungskategorien sprachlich zu gebrauchen, hätte ich mir dann doch nicht verkneifen können. Ich hätte wenigstens durch mein Schmunzeln gecheckt, ob mein Gegenüber es genausowenig ernst nimmt wie ich. Denn wer so etwas ernst nimmt, taugt für mich rein menschlich nicht zum stillschweigenden Bündnis, egal ob er einen Schwanz hat oder eine Muschi.
(Ich habe übrigens dieselbe schlechte Meinung von Frauenratgebern.)
Danke für Deine Gedanken. Ja, solche Bücher sind für manche hilfreich, z.B. wenn sie sich überhaupt erst neu mit der Thematik beschäftigen, und für manche schon unnötig. Wir sind ja alle dabei uns weiter zu entwickeln, jeder in der eigenen Geschwindigkeit. Gut, dass es immer mehr werden, die so reflektiert an das Thema herangehen. Ob dazu nun ein Buch genutzt wird, oder die Gedanken einfach so reifen, ist am Ende egal. Solange Toleranz, Offenheit und Mitgefühl jedem Andersdenkenden entgegen gebracht werden, können wir uns über einen konstruktiven Austausch freuen, der uns allen gemeinsam nutzt.
Sehr schöner Beitrag, Christiane 🙂